Eine junge Walliserin versuchte Pinochet in die Luft zu sprengen, für einen Luzerner Hauptmann ist es noch heute das Höchste, mit dem Diktator frühstücken zu dürfen: Die Schweiz und Chiles Militärregime.
Autor: Von Ruedi Leuthold
Das Unfassbare geschah fast auf den Tag genau 25 Jahre, nachdem der verehrte Generalhauptmann mit einem mutigen Streich den Teufel in die Schranken gewiesen hatte. Am 6. September 1998 lehnte die Schweiz das chilenische Auslieferungsgesuch für den Untergrundkämpfer Patricio Ortiz ab. Und wieder war in der chilenischen Hauptstadt Santiago die Hölle los. Die Regierung rief ihren Botschafter aus Bern zurück. Zwei selbsternannte Senatoren, ehemalige Generäle, forderten den Abbruch der Beziehungen zur Schweiz. Die Gemahlin des schweizerischen Botschafters, Freda Erismann, traute sich kaum noch ausser Haus, aus Angst vor Attacken empörter Einheimischer. Drohungen gingen ein gegen die Vertretungen grosser Schweizer Firmen, Nestlé, Novartis und die Ableger von Schmidheinys Imperium.
Gefühle des Unverständnisses, der Wut, der Empörung über den Entscheid der Berner Bürokraten bemächtigten sich der kleinen, knapp 2000 Mann starken Schweizerkolonie, und er war der geborene Mann, Jost Schnyder, Hauptmann der Infanterie, dipl. Forsting. ETH, Promotor der forstlichen Investitionen von Dr. Stephan Schmidheiny in Chile, inNovativster Milchbauer des Landes. An ihm lag es, das Elend in schneidende Sätze zu verwandeln. «Was ist denn der Schweizer Regierung in den Kopf gefahren, dass sie einen nachgewiesenen Mörder nicht an sein Ursprungsland ausliefert und - schlimmer als das - das Notwendige unternimmt, um dieses «pelo gato» (Katzenfell) in einen politischen Flüchtling zu verwandeln? Hat denn diese selbe Regierung daran gedacht, dass in Chile eine beachtliche Schweizerkolonie existiert, welche ihrem Ursprungsland durch harte Arbeit alle Ehre erweist und als ernst zu nehmende Meinungsgruppe in Chile ihre Anerkennung findet?» Dies alles wünschte Jost Schnyder, den seine Luzerner Soldaten Hauptmann Lefevre genannt hatten, weil er sie noch in Achtungstellung antreten liess, als die Armeereform den Soldaten den Schneid schon lange abgekauft hatte, am 8. September 1998 von Botschafter Erismann zu erfahren. Er habe Anweisung gegeben, auf seinem Bauerngut in Parral, dem ehemaligen Besitz einer der mächtigsten Familien Chiles, Geburtsort von Pablo Neruda, die Schweizer und die Krienser Fahne, welche jene von Chile immer begleiteten, nicht mehr zu hissen, solange Dinge passierten, welche man in Kathafis Libyen oder in Husseins Irak für möglich gehalten hätte, nicht aber in unserem helvetischem Vaterland.
Das schrieb Jost Schnyder, und wieder ergriff ihn eine tiefe Dankbarkeit gegenüber dem Land, das ihm so grosszügig Gastrecht gewährt hatte, und wieder fühlte er, dass es nur eine Möglichkeit gab, diese Schuld abzutragen. Er musste diesem mutigen Mann, der am 11. September 1973 das kommunistische Gespenst vertrieben und dem Land die Freiheit geschenkt, der aus Chile ein ordnungsbewusstes, gottesfürchtiges Land gemacht hatte und deswegen in einer beispiellosen Hetzkampagne weltweit verunglimpft wurde, er musste diesem seinem Vorbild seinen Dank abstatten.
«Mein General, Augusto Pinochet. Ich fühle mich privilegiert, in meiner Bibiliothek die vollständige fünfbändige Ausgabe Ihrer Erinnerungen zu wissen, mit einer persönlichen Widmung an meine Familie. Ihre grosszügige Geste ermutigt mich, an die Zeit vor dem 11. September 1973 zu erinnern, als eine Lawine menschlicher Tragik das chilenische Volk bedrohte.
Ich kann nicht anders, als Ihr brillantes Werk des nationalen Wiederaufbaus und der wirtschaftlichen Erstarkung mit dem eines grossen Schweizer Offiziers zu vergleichen, unter dem ich das Glück hatte, dienen zu dürfen.»
September 1998. Isabelle M., Tochter eines Walliser Bergdorfes, ist ebenfalls daran, ihre Erinnerungen aufzuschreiben an eine Zeit und eine Geschichte, die so weit entfernt sind wie ein anderer Planet. Sie lebt jetzt wieder in der Schweiz, in der Nähe von Lausanne, ist knapp vierzig. Braunes Haar. Einfacher Schmuck. Schlank, schön, und immer noch leuchten ihre Augen so hell wie damals, als sie zur Heldin eines sowjetrussischen Films über den Kampf gegen die faschistische Diktatur in Südamerika wurde.
Isabelle ist verheiratet, hat einen dreijährigen Sohn, der sie über die Leere des Alltags hinwegtröstet. Pensionierte Guerillakämpferin. Manchmal träumt sie davon, die schweizerische Armee zu reformieren und den Soldaten beizubringen, wie man einen wirklichen Krieg kämpft, auf verlorenem Posten gegen den übermächtigen Feind, wo man die Handgranaten aus Konservendosen und selbstgebasteltem Sprengstoff hestellt. Dann wieder ärgert sie sich über sich selber, weil sich die Spuren des soldatischen Daseins nie mehr tilgen lassen. Disziplin, Gehorsam. Sie schreit ihren Sohn an, wenn er nicht gleich gehorchen will, brennt ihm auch, weil er allzu frech wird, eins über den Schädel. Manchmal sehnt sie sich zurück nach der Zeit der Gefahr und der grossen Liebe, welche soviel mehr bedeutete, als nur die Schlafstatt zu teilen mit einem einzigen Menschlein, die die ganze unterdrückte, geschundene Menschheit umfasste. Ihr zuliebe war Isabelle M. nach Chile gereist, um die Welt vom blutigen Tyrannen und Präsidentenmörder zu befreien: Augusto Pinochet Ugarte.
Als, Jahre später, Patricio Ortiz, ein junger Genosse, den sie nicht persönlich kannte, in der Schweiz um Asyl nachsuchte, da quälte sie sich mit der Frage, ob sie damals wirklich konsequent genug gewesen seien in der Planung und Durchführung des Tyrannenmordes. Und ob es nicht doch besser gewesen wäre, im revolutionären Akt der Befreiung zu verglühen, so wie Ernesto Ché Guevara. Heute, so musste sie sich eingestehen, wäre es bloss noch eine Sache der Lächerlichkeit, den Alten ins Jenseits zu pusten. Wenigstens hat man ihn jetzt in London festgenommen.
So ist der Lauf der Geschichte, und Hans Münstermann, ihr Lehrer, elegant gekleidet, wie es sich gehört als Direktor der Schweizerschule in Chile, weiss, dass es, gerade in den Beziehungen zur fernen Heimat, nicht an ironischen Wendungen mangelt. Aber auch hier, in den muffigen Gebäuden des mittelständischen Quartiers von Nunoa, aus dem die Reichen längst ausgezogen sind, mit Schulbänken, die den Schulen des Kantons Baselland nicht mehr genügten, reisst die Nachricht von der Nichtauslieferung des Patricio Ortiz alte, nie verheilte Wunden auf. Als Münstermann nach Santiago kam, Juni 1973, noch war die erste vom Volk gewählte sozialistische Regierung an der Macht, Salvator Allendes Unidad Popular, steckte in irgendeiner Schublade des Erziehungsministeriums das Projekt einer Verstaatlichung der Privatschulen. So verfasste die Schweizer Botschaft einen Brief, der die Schweizerschule unter den Schutz der Eidgenossenschaft stellte.
Nach dem Staatsstreich unterschrieben 17 Lehrer einen Brief des Kollegen Münstermann, in dem sie den Putsch der Militärs mit der vorgängigen «Gewalt- und Willkürherrschaft» erklärten. Das Schreiben löste unter Schweizer Linken Empörung aus. Die Schule in Santiago galt fortan als «Hort der Reaktion», wo ein «Klassenkampf von oben» geführt werde, und dieser Tonfall bestimmte in der Schweiz jede politische Auseinandersetzung um die Vorgänge im fernen Land.
An Chile polierte die europäische Linke ihr reines, unschuldiges Herz. Jenseits des Andenkamms lauerte das Monster, das Ungeheuer, das Böse. Doch 44 Prozent der Bevölkerung stimmten für den Leibhaftigen, als die Verlängerung der Diktatur zur Wahl stand. Bitterkeit ist zu vernehmen in den Worten der altgedienten Lehrer und grösste Vorsicht, sich zum Fall Ortiz zu äussern, der die Fronten der Unversöhnlichkeit wieder aufbrechen lässt.
Sie trägt ein dunkelgrünes Kleid, weisse Bluse, das Gewand der hochgestellten Funktionärin. Sie ist klein und zierlich, versinkt fast hinter dem breiten Pult. Paulina Veloso, Direktorin der Fakultät des Rechts der Universität von Chile. Ehemals Vizeministerin im Büro für Frauenfragen. Treue Dienerin der Regierung von Eduardo Frei, die so bitter enttäuscht ist über den Entscheid der Schweizer Regierung, den wegen Polizistenmordes zu zehn Jahren Gefängnis verurteilten Patricio Ortiz nicht der chilenischen Justiz auszuliefern. Die Absage lieferte Munition für die Rechtsparteien und das Militär, welche der demokratischen Regierung Frei vorwerfen, sie sei unfähig, die chilenischen Interessen gebührend zu vertreten. Paulina Veloso gehört, wie der Aussenminister, der den Schweizer Botschafter Erismann in den Regierungspalast zitierte, um ihm Bestürzung und schärfsten Protest mitzuteilen, der Sozialistischen Partei an. ·
Die Direktorin der Fakultät berichtet in wohlgesetzen Worten, und nur die ungebändigte blonde Mähne erinnert an das siebzehnjährige Mädchen, das für die Regierung der Undidad Popular auf die Strasse ging. Sie war verliebt, und es war eine schöne Zeit, die Phantasie hatte Ausgang und auch zahlreiche ultrarevolutionäre Grüppchen, Speerspitze des Proletariats, Vorhut der universellen Gerechtigkeit, hier ein Anschlag, dort eine Besetzung. Natürlich machte das den Leuten angst, nicht nur der Oberschicht, und die Angst nährte ihre eigenen Phantasien, jeder Besitz werde enteignet, Moskau steuere die Regierung. Tatsache aber ist, dass unter der Regierung Allende 1970 bis 1973 niemand umgebracht wurde. Dass es Meinungsfreiheit gab. Dass niemandem illegal etwas weggenommen wurde. Beim Militärputsch, 20 000 Tote innert dreier Tage, 50 000 Chilenen im Gefängnis, wurde Paulinas Verlobter verhaftet. Alexei Jaccard, Mitglied der Kommunistischen Partei Chiles, Bürger der Schweiz, Heimatort Ste-Croix, Jura. Von dort war sein Grossvater ausgewandert. Nach der Freilassung das Exil in der Schweiz, Heirat. Vom Militärdienst wurde Alexei dispensiert, die militärärztliche Untersuchung bezeugte, als Folgen erlittener Torturen, psychische und physische Traumen, Verletzungen des Trommelfells, Folgeschäden durch gebrochene Hüften, gebrochene Finger, herausgerissene Fingernägel. Am 14. Mai 1977 reiste Alexei nach Argentinien, um dort seine Mutter und seine Schwester wiederzusehen, auch um Kontakt aufzunehmen mit exilierten Mitgliedern seiner Partei. Ein Jahr zuvor hatte auch in Argentinien das Militär die Macht übernommen. Die Gruppe seiner Freunde stand bereits unter Beobachtung, sie alle wurden, in einer gemeinsamen Aktion des chilenischen und des argentinischen Geheimdienstes, im Mai 1977 in Buenos Aires entführt und zum Verschwinden gebracht. Alexei Jaccard wurde zum einzigen Schweizer Opfer eines gezielten Terrors des Militärregimes. Bis zur Absetzung des Geheimdienstchefs Manuel Contreras im Jahr 1978 hiess das Ziel: Ausrottung der Linken.
«Paulina Veloso, die spanische Justiz versucht, General Pinochet wegen Völkermords vor Gericht zu bringen. Glauben Sie, die Schweiz hat genug getan, um das Schicksal Ihres verschwundenen Mannes abzuklären?»
Ihre Stimme ist jetzt ganz leise, aber fest, das Echo aus einer Kathedrale des Schmerzes. Ich will keine Rache. Ich will niemanden im Gefängnis sehen. Ich will nur wissen, was geschehen ist. Seine letzten Stunden mit ihm teilen. Ich habe nie aufgehört, Nachforschungen anzustellen. Aber die Schweiz hat den Fall zu den Akten gelegt. Ich hoffte, die Schweizer Regierung würde den Fall Ortiz benutzen, um nochmals auf das Schicksal von Alexei hinzuweisen. Leider hat sie es unterlassen. (Inzwischen hat Paulina Veloso, im Gefolge von Augusto Pinochets Verhaftung in London, Strafanzeige in Genf gegen den Ex-Diktator eingereicht, aufgrund deren der Genfer Generalstaatsanwalt Bernard Bertossa Pinochets Auslieferung an die Schweiz verlangt. Bertossa ermittelt wegen Freiheitsberaubung, Entführung und Mord an Alexej Jaccard.)
Nach dem Verschwinden ihres Ehemannes kehrte Paulina Veloso in ihre Heimat zurück. Bei den Protestbewegungen im Jahr 1983 wurde sie, Mitglied einer klandestinen Studentenorganisation, von der Polizei verfolgt, tauchte in den Untergrund. Der Schweizer Botschafter Ives Mollet verschaffte ihr einen Brief, der sie unter den Schutz der Eidgenossenschaft stellte. Wenige Tage später kam die Aufforderung, den Brief zurückzugeben, der Bundesrat habe die Aktion des Botschafters als unstatthaft gerügt. Paulina Veloso gab den Brief zurück. Nicht ohne vorher eine Kopie zu machen, und mit diesem Papier unter dem Kopfkissen verbrachte sie ihre Nächte bis zum Ende der Diktatur.
«Paulina Veloso, finden Sie es richtig, dass Patricio Ortiz nicht an Ihre Regierung ausgeliefert wurde?»
«Darüber kann ich nicht sprechen.»
Ich stelle das Tonband ab.
Ich bin überhaupt nicht einverstanden mit dem, was die Gruppe von Ortiz macht. Mit dem Ende der Diktatur hat jede bewaffnete Aktion ihre Berechtigung verloren. Aber wissen Sie, hier laufen noch so viele Verbrecher frei herum. Vielleicht ist es besser, ihr habt ihn dort behalten.
Während sich in den Botschaften von Mexiko, Belgien, Holland, Italien und Schweden die Asylsuchenden zu Hunderten drängten, blieben die Tore der Schweizer Botschaft im September 1973 für die Verfolgten verschlossen. «Sie werden sich doch kaum vorstellen, dass ich irgend jemandem erlaube, sich hier einzurichten, ohne zu wissen für wie lange Zeit», gab der damalige Botschafter Masset einem Journalisten zu verstehen.
In diesem gleichen Jahr waren die Exporte von der Schweiz nach Chile, allerdings nie sehr bedeutend, rapid zurückgegangen. Ein Jahr zuvor, 1972, war Chile, gebeutelt durch Kupferpreissenkungen, Kapitalrückzüge, Sperrung von Weltbank-Krediten, nicht mehr allen Rückzahlungsverpflichtungen gegenüber schweizerischen Kreditgebern nachgekommen. Der Bund zahlte den Gläubigern die risikogedeckten Kredite aus, beschloss aber, Chile auf langfristige Exportkredite keine Risikogarantie mehr zu gewähren. Das bedeutete, dass auch Privatwirtschaft und Banken der Regierung Allendes keine Kredite mehr gewährten. Die Volksfront hatte Sudameris verstaatlicht, eine französisch-italienische Bank, an der die SBG zu zwölf Prozent beteiligt war. Nestlé war nicht verstaatlicht worden. Die Firma zeigte sich trotzdem nicht sehr kooperativ bei Allendes Anstrengungen, in den Armenvierteln Gratismilch zu verteilen. «Wir haben unser Wirtschaftssystem», sagte der damalige Schweizer Handelsminister Ernst Brugger im Nationalrat, «die Chilenen haben es vorgezogen, ein anderes einzurichten, das liegt in ihrer Autonomie. Aber dass man uns dabei noch einladen soll, da einzusteigen, das übersteigt meine Vorstellungskraft, wobei ich zugestehen will: Ich bin vielleicht kein grosser Politiker, sondern nur ein Krämer und Händler.»
Nach dem Putsch zogen die Exporte, ungeachtet andauernder Menschenrechtsverletzungen, wieder kräftig an. Die Holderbank-Holding der Schmidheiny-Gruppe beherrschte den Zement-, Nestlé den Glacemarkt. Nach einer Wirtschaftskrise im Jahr 1982 übernahm der Staat die Schulden zahlreicher Industriekomplexe - eine Sozialisierung, von der Allende nicht zu träumen gewagt hätte. Zahlreiche Unternehmen wurden zur Deckung von Schuldguthaben an ausländische Investoren verkauft, auch solche, die bislang aus strategischem Interesse in nationalem Besitz bleiben sollten. Diese Entnationalisierung und Modernisierung der Wirtschaft wollte nun gar nicht mehr zum Etikett einer «faschistischen» Regierung passen, an dem die eingeschworenen Gegner des Regimes hartnäckig festhielten. Als Ende der achtziger Jahre der damalige Schweizer Botschafter in Chile anlässlich einer Botschafterkonferenz verlauten liess, Pinochet habe auch seine guten Seiten, wurde er vom sozialdemokratischen Aussenminister Felber flugs zu Ceausescu nach Rumänien versetzt. 14 Jahre nach dem Putsch war der General auch in Bern geächtet.
Das hat dem Mann nicht besonders weh getan. Isabelle M. aber verschwor sich zu Aktionen von einschneidenderer Natur. Fünfjährig war sie, als die Familie in die Stadt zog. Der Vater hatte den kleinen Bauernhof aufgegeben, arbeitete im Stauwerk von Grand Dixence. Doch die Wurzeln, von denen sie zog, waren die Walliser Berge. Das einfache, tätige Leben. Der Respekt für die andern. Eine Liebe, die grösser ist als das eigene Herz. Sie suchte sich,16 war sie, Lehrtochter als kaufmännische Angestellte, zuerst eine Gruppe spanischer Antifaschisten. Verweilte bei einer Gruppe chilenischer Asylanten, deren politische Ideale mehr Spannung versprachen als die Beschäftigung mit der Waadtländer Kantonalpolitik. Sie besorgte ihnen die Buchhaltung. Nein, sie reiste nicht bloss als Geliebte eines jungen Chilenen nach Südamerika, sondern als eingeschriebenes Mitglied der kommunistischen Jugend von Chile, die am 14. Dezember 1983, unter dem Namen Patriotische Front Manuel Rodriguez (FPMR), mit einem Attentat auf die Stromversorgung der Hauptstadt den bewaffneten Kampf gegen die Tyrannei ankündete. Isabelle M., mit schweizerischer Identitätskarte eingereist, Französischlehrerin zur Tarnung, besorgte Unterkünfte für die Kämpfer, verschob Waffen, beteiligte sich an den Vorbereitungen, um das Hindernis zu beseitigen. Es herrschte ein vorrevolutionäres Klima, notwendig war ein strategischer Schlag, um einen Volksaufstand auszulösen und die Demokratie zurückzuerobern. Das Hindernis war General Augusto Pinochet. Der bewaffnete Arm des Volkes würde es beseitigen.
Schon war der Tunnel unter die so oft von ihm befahrene Strasse gegraben, der den General mit ein paar Zentnern Sprengstoff samt gepanzertem Mercedes himmelwärts befördern sollte, als die Armee, aufmerksam gemacht durch amerikanische Satellitenbilder, das Waffenlager der Aufständischen entdeckte. Der Plan wurde geändert, ein Hinterhalt zwischen der präsidialen Residenz und der Stadt. Es war Isabelle, welche die Strecke abfuhr mit schwerem Gefährt, um die Zeit zu berechnen, die der General bis zum Hinterhalt brauchen würde. Es war Isabelle, die den Anruf machte, 18.21 Uhr, Sonntag, 7. September 1986, der den Wartenden den Konvoi ankündete, noch zwölf Minuten. Es war Pech, dass ausgerechnet die Panzerfaust nicht funktionierte, die den präsidialen Wagen traf. Es waren, wie immer, mehrere Wagen unterwegs, und die Angreifer wussten nicht, in welchem der General sass. Die zwei Kilogramm schweren Waffen, Volltreffer beim ersten Auto des Konvois, amerikanische M-72A2, Anfang der siebziger Jahre in Vietnam erbeutet, über die Sowjetunion und Kuba nach Chile geschmuggelt, hatten vielleicht eine allzu lange Reise hinter sich. Vielleicht auch wartete der Schütze, der den zweiten gepanzerten Mercedes ins Visier nahm, zu lange mit dem Abschuss, das Auto war schon zu nahe aufgerückt, der Zünder, der mindestens 9,1 Meter brauchte nach Verlassen des Laufes, hatte nicht mehr genügend Zeit, sich zu drehen und die Sprengladung zu aktivieren. Fünf Leibwächter des Präsidenten kamen beim Attentat ums Leben, der General kam ohne Kratzer davon. In der gleichen Nacht holten Agenten der Geheimdienste fünf linke Intellektuelle, die mit den Vorgängen nichts zu tun hatten, aus ihren Betten, einem gelang die Flucht, die andern vier wurden erschossen. Vergeltung.
Wie überall auf der Welt, so werden auch im spanischen Sprachraum die beiden Länder Schweiz und Schweden leicht verwechselt. Nach dem Militärputsch, September 1973, hatten sich die Mitglieder der Schweizerkolonie besonders Mühe gegeben, nicht mit Schweden verwechselt zu werden. Suiza, nicht Suecia. In der schwedischen Botschaft hatten sich viele Flüchtlinge verschanzt gehalten, und die Wut der Militärregierung auf die Schweden war besonders gross gewesen. Vielleicht war es die Erinnerung an dieses Ereignis, vielleicht auch nur ein simples Versehen, jedenfalls suchte die Polizei nach dem Attentat, September 1986, verzweifelt nach einer jungen Schwedin als Mittäterin. Das gab der Schweizerin Isabelle M. genügend Zeit, sich neue Papiere zu beschaffen und nach Argentinien auszureisen, dann nach Kuba. Von den 25 Mitgliedern des revolutionären Kommandos wurden neun verhaftet, mehrere kamen bei späteren Aktionen ums Leben oder wurden von den Sicherheitskräften getötet.
Nach dem fehlgeschlagenen Attentat forderte ein junger Sozialist schweizerischer Abstammung, José Brunner, Sohn des Vertrauensanwalts der Schweizer Botschaft, die demokratischen Kräfte des Landes auf, von einer Politik der Konfrontation abzusehen, die von den Generälen diktierte Verfassung zu akzeptieren und mit ihnen den geordneten Rückzug zu verhandeln. Das war der Beginn einer mühseligen und schwierigen Rückkehr zur Demokratie, welche nicht möglich war, ohne viele Kompromisse zu schliessen. Einer von ihnen bestand darin, dem General in Form einer Senatorenstelle lebenslangen Schutz vor Strafverfolgung zu garantieren.
Zwischen 1968 und 1973 hatte die schweizerische Rüstungsindustrie für 27 Millionen Franken Waffen nach Chile geliefert. 22 Mowag-Panzerwagen und mehrere tausend SIG-Sturmgewehre. Sowohl die schweizerischen Sturmgewehre wie auch die schweizerischen Panzerwagen, welche die Regierung Allende noch nicht bezahlt hatte, wurden vom Militär beim Kampf gegen den verhassten Präsidenten eingesetzt. Die Generäle beglichen alsbald die offene Rechnung und bestellten 1979 25 weitere Mowag-Piranhas. Als der Bundesrat, durch das Waffenausfuhrverbot verpflichtet, die Lieferung verbot, verkaufte das Unternehmen aus Kreuzlingen den Chilenen kurzerhand die Konstruktionspläne für die Panzerwagen. Die Lizenzproduktion, aufgenommen in der Wüste von Atacama, war Beginn eines alsbald blühenden Gewerbes, schon bald begann Chile Waffen zu exportieren.
Im Juni 1994 kam Jost Schnyder, Schmidheinys Vertrauter in Chile, als gemachter Mann nach Luzern zurück. Hier hatte er, Sohn eines Krienser Gemeindepräsidenten, die Kantonsschule absolviert. Mit zwanzig war er, unruhiger Geist, überschüssige Kraft, überschäumendes Temperament, bereits Leutnant der Schweizer Armee. Das Militär bewahrte ihn davor, nach Griechenland durchzubrennen. Dafür reiste er, Studium abgeschlossen, nach Libyen, wo er mit einem Forstprojekt in Konkurs ging. Er arbeitete als Kellner in der «Mostrose», unten an der Luzerner Rathaustreppe. Für die chemische Industrie besprühte er Baumwollplantagen in Afrika. Hier lernte er seine erste Frau kennen, eine Chilenin. Ohne viel Geld, aber mit der Vision blühender Wälder, langfristiger Anlagen, wanderte er 1987 nach Chile aus. Hier war Stephan Schmidheiny, einer der reichsten Schweizer, daran, sich von allzu umweltschädlichen Industrieprojekten zu lösen und zu diversifizieren. Jost Schnyder machte ihn in kurzer Zeit zum drittgrössten Waldbesitzer Chiles, und als das Engagement abgeschlossen und abgerechnet wurde, war genug Geld vorhanden, um ein grosses Gut zu erwerben, mit dem er einen Jugendtraum wahrmachen konnte: Bauer zu werden.
So hatte Jost Schnyder allen Grund, zufrieden zu sein, als er im Juni 1994 seine alten Freunde in Luzern wiedersah. Aber glücklich, richtig glücklich war er erst, als er vernahm, dass, o Wunder, im Hotel «National» zu Luzern mein General logierte, der chilenische Ex-Präsident Augusto Pinochet. Und jetzt hätte man ihn sehen müssen, den Jöschtu, wie er sich weder vom Hoteldirektor abwimmeln liess, der den hohen Besuch verleugnete, noch von den Leibwächtern, die ihn abschirmten, wie er es schaffte, mal ruppig wie ein alter Infanterist, mal zuvorkommend wie ein Mann von Welt, zum General vorgelassen zu werden und mit ihm, eine geschlagene Stunde lang, frühstückte.
Dabei berichtete er ihm von den mutigen Leuten, die es auch in der Schweiz gegeben habe, damals, als das Land eingeschlossen war von den braunen Kräften und kurzsichtige Politiker schon den Anschluss suchten an den mächtigen Nachbarn, achtzig Offiziere seien es gewesen, die sich geschworen hätten, den Nazis keinen Quadratmeter Landes zu überlassen, mutige Offiziere, mutig wie Sie, mein General, nur standen Sie, als die Kommunisten den Fuss auf Südamerika setzten, ganz alleine, mein General, ganze allein gegen die Welt.
Pinochet war beeindruckt, doch dann sagte er, gerade deswegen könne er nicht verstehen, warum die Schweiz ihm so wenig Verständnis entgegenbringe und ihn nicht gebührend willkommen heisse. «Wissen Sie, mein General», anwortete Jost Schnyder, «Schafseckel gibt es überall.» Diese Antwort erfreute einen mitgereisten chilenischen Offizier dermassen, dass er ein Bildchen schoss von Jost und dem General, man kennt ihn fast nicht im zivilen Anzug, ein kleines, munteres Männchen, versunken in einem riesigen Ledersessel.
Anderntags erfuhren die Journalisten vom Besuch des chilenischen Putschgenerals, Aufregung herrschte, Bundesrat Cotti drückte sein tiefstes Unbehagen aus, und männiglich rätselte, wer Pinochet wohl nach Luzern geladen habe. Jost Schnyder wusste die Antwort, schliesslich hat er seinem General nachgewinkt, der wegfuhr aus Luzern in einer abgedunkelten Limousine der Mowag, Kreuzlingen, Schweiz.
Nach dem gescheiterten Attentat auf Pinochet löste sich die Frente Popular Manuel Rodriguez von der Kommunistischen Partei, die dem bewaffneten Kampf abschwor. Die FPMR legte die Waffen aber auch nicht beiseite, als, wohlbehütet von den Generälen, 1990 ein demokratisch gewählter Präsident die Regierung übernahm. Die FPMR brachte ehemalige Geheimdienstleute um, tötete einen Rechtspolitiker, entführte Geschäftsleute, erpresste Lösegeld. Patricio Ortiz hatte, als er Ende Februar 1991 verhaftet wurde, Daten über mögliche Entführungsopfer gesammelt. Bei seiner Verhaftung kam es zu einem Schusswechsel. Der Polizist Oswaldo Reyes, ledig, 28jährig, kam ums Leben. Von einem zivilen Gericht wurde Ortiz vom Vorwurf der Mitgliedschaft einer terroristischen Vereinigung freigesprochen, weil das Geständnis unter Folter erreicht worden war. Ein Militärgericht fand Ortiz des Mordes am Polizisten Oswaldo Reyes schuldig. Ortiz sagte aus, er habe die Waffe nicht benützt. Der Staatsanwalt konnte nicht beweisen, dass Reyes durch eine Kugel aus der 9-mm-Browning des Angeklagten umgekommen war. Die ballistischen Beweise seien verlorengegangen. Ortiz erhielt zwanzig Jahre Gefängnis, die später auf zehn reduziert wurden.
Seine beiden Vorgesetzten innerhalb der Frente waren Polizeispitzel gewesen, die ihn möglicherweise verpfiffen hatten. Am 10. Oktober 1992 versuchte Patricio, zusammen mit sieben weiteren Gefangenen, darunter seinem Bruder, aus dem Gefängnis zu fliehen. Auch dieses Vorhaben war verraten, sie rannten direkt in eine Falle der Polizei. Patricio überlebte, weil er bei seinem sterbenden Bruder zurückblieb, sich mit dessen Blut bestrich und sich totstellte, als die Polizisten zurückkamen, um ihn, wie zwei andere Fluchtgefährten, umzubringen. Er bewegte sich erst wieder, als andere Leute hinzukamen.
Im Dezember 1996 gelang es der FPMR, mit einem Helikopter einen kugelsicher gemachten Korb in das neuerstellte Hochsicherheitsgefängnis von Santiago herunterzulassen und vier Mitglieder, darunter Patricio Ortiz, zu befreien. Ortiz verliess schon bald seine Genossen, um in der Schweiz, wo seine Schwester zu Hause war, ein Asylgesuch zu stellen. Auf Ersuchen Chiles wurde er in Auslieferungshaft genommen. Nach gut einem Jahr wurde das Gesuch, zum grossen Ärger der chilenischen Regierung, abgelehnt, weil, so drückte es die Schweiz aus, «die physische und psychische Integrität nicht in allen Phasen der Auslieferung und Verbüssung der Reststrafe» vollumfänglich gewährleistet werden könne.
«Ist Patricio für euch ein Verräter?»
Ich sitze in einem dunklen Zimmer im Zentrum von Santiago. Einen langen Vortrag über die Politik und Strategie der FPMR habe ich bereits gehört. Nein, man will dem bewaffneten Kampf nicht abschwören. Die zivilen Regierungen sind nichts als die Dekoration eines ungerechten Systems, das die reichen Minderheiten bevorzugt. Das Volk muss wieder auf die Strasse, die wahrhaft demokratischen Organisationen voran. Eine wirkliche Demokratie gibt es nicht, solange der Kapitalismus herrscht. Der Specher, jung, bleich, freundlich, humorlos, antwortet wie aus der Pistole geschossen:
«Unsere Führer haben sich klar geäussert. Wir respektieren Patricios Haltung. Aber wir finden sie nicht gut. Entweder bitten alle um Asyl oder niemand. Es gibt keine individualistischen Lösungen.»
Der Junge, Leonardo heisst er, stockt einen Moment, schaut mich nachdenklich an, fast ein bisschen mitleidig. Er sagt:
«Und ausgerechnet in der Schweiz Asyl zu suchen! In dieser rassistischen, xenophoben, erzkapitalistischen Schweiz, ist das nicht unverständlich?»
Ich bedanke mich für das Gespräch.
Hunde, Schwulenbrüder, Lumpenpack, Fitzliputzer, Säcke voll Scheissdreck. Die Ausdrucksweise des Jost Schnyder aus dem Luzerner Geschlecht der Schnyder von Wartensee ist alles andere als gewählt, wenn er von jenem Fünftel der chilenischen Bevölkerung spricht, welcher seiner Meinung nach zu gar nichts zu gebrauchen sei und zu dem er selbstredend auch diesen Patricio Ortiz zählt, dem die Schweiz, vorläufig auf ein Jahr beschränkt, Gastrecht gewährt hat. An seiner Gastfreundschaft lässt sich ansonsten nichts aussetzen, auch wenn Jost Schnyder in diesen überpolemischen Briefen, die er spätnachts manchmal schreibt, wenn er den Schlaf nicht findet, Journalisten gern als lackierte Affen bezeichnet.
Jeden Abend betet er zu Gott, dass er die Kraft finden möge, seinen Leuten zu zeigen, dass sich mit Arbeit, und nur mit Arbeit, etwas erreichen lässt.
Alle Weihnachten verkleidet er sich als Weihnachtsmann und macht den Kindern seiner Angestellten und den eigenen Kindern Geschenke. Der älteste Sohn besucht die Militärschule in Santiago, und jeden März überreicht dort der Vater seinem Sohn den Degen: Für deine Zukunft, zu meinem Stolz, zur Ehre Chiles. Das ist, für ihn, der schönste Moment im Jahr.
Die Schweiz? Das ist für mich General Guisan, die Anekdoten über Bundesrat Minger und die Musik von Jost Ribary. Wir trinken Kaffee fertig, wie in Luzern.
An der Küchenwand hängt das Bild Pinochets. Zusammen mit Jost Schnyder und Sohn Nicolas.
Tausende von Tote während der Militärdiktatur? Alles nur eine riesige internationale Propagandamaschine.
Langhaarige. Jetzt zählt Jost Schnyder auch noch die Langhaarigen zu seinen Feinden. Die Attacken überkommen ihn wie hysterische Anfälle. Wie religiöse Erleuchtungen.
Er trägt einen Overall und hohe Stiefel. Er hat einen spitzen Bauch und einen strammen Schritt, wie ein alter Kavallerist. Der Overall ist etwas zu eng.
Jetzt führt er mich, ruhig und fachkundig, über den Hof.
Wir machen Duzis.
Anderntags zeigt er mir den Brief, den er dem General zum Geburtstag schicken will.
Herr Generalhauptmann
Zwischen 1961 und 1973 hat der Heeresgeneral Alfred Ernst meine militärische Ausbildung wesentlich beeinflusst. Er befehligt das Feldarmeekorps 2, zu dem die Felddivision 6 und 8 gehörten und wo ich bis zum Oberleutnant aufstieg. Von 1969 bis zu seinem Abschied kreuzten sich unsere Wege immer wieder. General Alfred Ernst erreichte den höchsten Rang, den ein Soldat in der Schweiz erreichen kann. Am 19. September 1981, meinem zweiten Tag in Chile, betrachtete ich voller Staunen ein Defilee Ihrer Truppen. Meine Scham über die eigenen Aufmärsche wurde etwas gemildert, weil ich im Kriegsmaterial, das Ihnen in vollkommener Ordnung vorgeführt wurde, etliche Schweizer Produkte erkennen konnte. Von diesem Tag an stieg meine Bewunderung für Sie und Ihr Werk: die Rettung Chiles von der Hölle, die nationale Wiederherstellung, der Wandel des Landes von einem politischen Theater zu einem hohen Produktionsniveau auf allen Ebenen der Wirtschaft. Und so kam es, dass die Leere, welche der Tod von General Alfred Ernst hinterlassen hatte, wieder aufgefüllt wurde. Es stimmt nicht, dass er im Jahr 1973 starb. Sein Geist, der Geist aller grosser Männer, mein Generalhauptmann, ist auf Sie übergegangen, und das macht mich glücklich und lässt mich wieder ganz als Offizier des Heeres fühlen: stolz, ungeschlagen, vaterländisch. ·
RUEDI LEUTHOLD ist redaktioneller Mitarbeiter des «Magazins».