Chile wird demokratischer - dank Pinochet
Der Prozess gegen Ex-Diktator Augusto Pinochet hilft Chile, alte Traumas zu überwinden.
Von Ulrich Achermann, Santiago de Chile
Der Pessimismus überwog, als Grossbritannien Pinochet vor einem Jahr in seine Heimat zurückspedierte und Chile in eigener Regie die juristische Abrechnung mit dem General begann. Die Kritiker warnten vor einer demütigenden, schmerzlichen Erfahrung. Doch das Gegenteil ist eingetreten: Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wirkt befreiend.
Die ehemalige Diktatur hat die Sechstklässler erreicht. Nach einem Pilotversuch im vergangenen Jahr und einem heftigen Streit zwischen Rechten und Linken werden jetzt die bleiernen 17 Jahre unter Augusto Pinochet in den höheren Klassen der Primarschule nicht mehr verschwiegen. "Pinochet stürzte Allendes Regierung", steht in einem neuen Schulbuch. "Viele freuten sich darüber, andere schmerzte der Verlust der Demokratie. Die Diktatur beging Verbrechen; manche Menschen wurden verhaftet, gefoltert und getötet." "Also doch, wir können es", frohlockt Antonieta Vitera vom Erziehungsministerium. Es ist noch keine tief schürfende Auseinandersetzung mit der Zeit zwischen 1973 und 1990. Sondern eine, die das Gebot zur Respektierung der Menschenrechte in den Vordergrund stellt und sich vorläufig darauf beschränkt, die Standpunkte für und gegen die Diktatur wiederzugeben.
Gegenüber früher, als es nur offizielle Wahrheiten gab, ist das ein Fortschritt. Einer, der seine Wirkung nicht verfehlt: Heute, mit Pinochet unter Hausarrest und Anklage, herrscht Aufbruchstimmung in Chile. Im politischen wie im kulturellen Leben werden Tabus gebrochen, wird neuerdings auch über heikle Themen gesprochen. "Ich muss mir vorwerfen, von den Menschenrechtsverletzungen gewusst und doch nichts dagegen getan zu haben", sagt die Abgeordnete Pia Guzman aus dem Pinochet-Lager. "Befreiend", findet Staatspräsident Ricardo Lagos, sei die Anklageerhebung gegen Pinochet für Chiles Gesellschaft gewesen.
Seit klar ist, dass der Pinochet-Prozess nicht die Entscheidung über Leben oder Tod der jungen Demokratie bedeuten wird, steigt die Zuversicht. Die Politik entdeckt die realen Sorgen der Menschen wieder und befasst sich beispielsweise mit der Ausdehnung der Altersvorsorge für nicht berufstätige Frauen oder einer unbürokratischen Studienfinanzierung. Eine Bürgeraktion stösst die Tür zu neuen Freiheiten auf: Das Verbot bestimmter Almodóvar-Filme fällt. Und der interamerikanische Menschenrechtshof in Costa Rica schützt eine Klage gegen ein höchstrichterliches Verbot für Martin Scorseses Film "Die letzte Versuchung Christi" und zwingt Chile so, seine Kinozensur ganz aufzuheben.
Nachts swingt Santiago wieder, Underground-Szene, alternatives Theater und alternativer Film entwickeln Konturen. Nicht alles, aber vieles ist im Fluss: Das Männermagazin "Playboy" darf sich in der Kioskauslage noch immer nicht zeigen, missliebige Autoren können auch heute jederzeit per "Staatssicherheitsgesetz" kaltgestellt werden. Die Einführung der Scheidung ist nach wie vor nicht spruchreif, die Diskussion über die Abtreibung erst recht tabu. Dafür bleibt heimkehrenden Urlaubern heute am Flughafen die Erniedrigung erspart, den Ferienfilm mit Mami und den Kindern drauf erst einmal der Zensur zur Kontrolle abzuliefern.
"Chile begann die Angst abzustreifen, als Pinochet im Herbst 1998 in London verhaftet wurde", diagnostiziert der Politologe Ricardo Israel. "So wie sich in Spanien nach dem gescheiterten Putschversuch vor 20 Jahren die Demokratie festigte und der Aufbruch zu neuen Horizonten begann." Nach der Rückkehr des früheren Diktators ging dieser Prozess weiter: Die Armee gestand, sie habe viele Regimegegner ins Meer oder in Vulkane geworfen, und legte ein Schuldbekenntnis zu den Menschenrechtsverbrechen ab.
An sich kannten die Chilenen diese Wahrheit schon lange. Doch nun wurde sie auch im Lager der Pinochet-Anhänger zu einer Gewissheit, die sich nicht länger verdrängen liess. Die Zeitung "El Mercurio" schreibt nicht länger von "so genannten Verschwundenen" und unterscheidet heute zwischen wirtschaftlichen Errungenschaften und Verbrechen der Pinochet-Diktatur. "Dieser Wandel bewahrt uns davor, die neue Gesellschaft auf der Basis einer Lebenslüge aufzubauen", sagt der Jurist und frühere Amnesty-International-Präsident Jose Zalaquett. "Und die Bestrebungen, Pinochet vor Gericht zur Rechenschaft zu ziehen, haben den Leuten wieder Vertrauen in die Institutionen gegeben." Niemand in Chile steht mehr über dem Gesetz. Das gilt selbst dann, wenn das Strafverfahren gegen den 85-jährigen Pinochet wegen Anstiftung zu Mord und Entführung in wenigen Wochen endgültig eingestellt werden sollte. Pinochet geht am Stock, geisteskrank - einziger Prozesshinderungsgrund - ist er nicht. Doch auch fortschrittliche Richter neigen zur Ansicht, man sollte milderes internationales Recht über das strenge chilenische stellen und dem schwächlichen Pinochet den Prozess aus "medizinischen Gründen" ersparen.
Pinochets Opfer und die Linke kämpfen jedoch dafür, dass der Ex-Diktator verurteilt wird - das ist die Auseinandersetzung, die Chile noch bevorsteht. Für Zalaquett, den Nelson Mandela einst als Berater nach Südafrika geholt hatte, genügt es, "dass mit der Aufhebung seiner Immunität die Figur Pinochet vom Sockel gestossen worden ist" und Anklage gegen ihn erhoben wurde. "Mit der Eröffnung des Prozesses ist eine so starke Schuldvermutung verbunden, dass sich alles Weitere im Grunde erübrigt."
In den Schulbüchern bleibt alles trockene Materie: "279 Tote und 2155 Verschwundene zählte die nach Wiederherstellung der Demokratie eingesetzte Wahrheitskommission", heisst es dort. Die Politiker blicken nach vorne, sie möchten die Vergangenheit ruhen lassen, ohne sie für ungeschehen zu erklären. Pinochets Anhänger versuchen jetzt, die vielen Prozesse gegen Folterknechte zu stoppen, und signalisieren ihre Bereitschaft, an einer vollen Demokratisierung Chiles mitzuwirken. Das Ende der langen Übergangsdemokratie, die dem alten Machtapparat beträchtlichen Einfluss sichert, rückt in Sichtweite.