Tages-Anzeiger vom 4. 12. 00

Ein Richter rückt Pinochet auf den Leib

In die unendliche Geschichte um den Pinochet-Prozess ist Bewegung gekommen. Nach der Anklage durch einen Untersuchungsrichter legen Pinochets überraschte Anwälte Rekurs ein.

Es war, für Lateinamerika, ein bemerkenswertes Wochenende. In Mexiko wurde zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte des Landes ein Präsident vereidigt, der nicht dem Partido Revolucionario Institucional angehört. In Lima traf die Nachricht ein, dass Ex-Staatschef Alberto Fujimori definitiv nicht daran denke, in nächster Zeit in sein Land zurückzukehren - mit guten Gründen, würden ihn doch dort hauptsächlich Demütigungen und Prozesse erwarten. In Buenos Aires wurde einer der übelsten und zynischsten Kommandanten aus der Zeit der Militärdiktatur, Emilio Massera, aufs Neue unter Arrest gestellt: Er muss sich wegen Kindesraub verantworten, eines der wenigen Delikte für die es keine Amnestie gibt.

Erdrückendes Beweismaterial

Und in Santiago de Chile schritt Untersuchungsrichter Juan Guzmán zur Tat. Er ermittelt seit Monaten in inzwischen 183 Fällen gegen Ex-Diktator Augusto Pinochet und sorgt dafür, dass der Alte nach seiner triumphalen Rückkehr aus dem Londoner Arrest im März dieses Jahres weder gloriose noch ungetrübte Stunden verbringen durfte. Im Gegenteil: Beschützt von seiner Familie, einer kleinen, fanatischen Anhängerschaft, einer ganzen Armada von Anwälten und natürlich den Waffenbrüdern zur See, in der Luft und im Felde, sah sich Pinochet in die ungewohnte Rolle eines Angeklagten im eigenen Land gedrängt. Die unabhängig gewordene, von der neuen Regierung ermutigte Justiz rückte ihm auf den Leib - unter beifälliger Orchestrierung aus dem In- und Ausland.

Im Juni gelang Untersuchungsrichter Guzmán der Durchbruch, als er erreichte, dass Pinochet auf Grund des erdrückenden Beweismaterials die Immunität, die er sich seinerzeit als Senator auf Lebenszeit selber verschafft hatte, entzogen wurde. Seither ist die Möglichkeit nicht mehr von der Hand zu weisen, dass Pinochet dereinst in einem Gerichtssaal erscheinen muss, um sich zu verantworten. Ob die jetzt eingereichte Anklage ausreicht, um ihn auch zu verurteilen, ist alles andere als sicher. Zwar wird Pinochets Wissen um die Massenhinrichtungen, die in Zusammenhang mit der "Karawane des Todes" von zum Teil hoch gestellten Militärs begangen wurden, zu beweisen sein. Aber es gibt in Chile für alle in der Frühzeit der Diktatur begangenen Verbrechen eine Generalamnestie.

Die Militärs sind nervös

Bevor Pinochet befragt oder verhört werden kann, muss sein geistiger Gesundheitszustand abgeklärt werden - eine Massnahme, die von des Ex-Diktators Anwälten bisher erfolgreich hintertrieben wurde. An seinem 85. Geburtstag vor ein paar Tagen unternahm ein soweit seiner Sinne mächtig wirkender Pinochet einen halbherzigen Versuch, die Nation "zu versöhnen", wie er es nennt; einerseits wollte er die Verantwortung für die vom Militär unter seiner Herrschaft begangenen Verbrechen übernehmen, aber anderseits brabbelte er etwas von einer "Propaganda" der Gegner, die sein und Chiles Bild verzerrten. In den Wind gesprochene Worte.

Während Staatspräsident Ricardo Lagos aus dem fernen Mexiko, wo er zur Amtseinsetzung Vicente Fox' weilte, am Samstag die Initiative Guzmáns als einen "ganz normalen Vorgang" bezeichnete, beraten die Spitzen des Militärs die Situation, die sie als "höchst beunruhigend" qualifizieren, hinter verschlossenen Türen und verlangen eine Unterredung mit der Regierung. Pinochets Anwälte haben bereits ein Appellationsgericht angerufen und weisen die Anklage aus formellen und inhaltlichen Gründen zurück. Die überwiegende Mehrheit der Einwohnerschaft von Santiago ist des Gerangels um ihren Ex-Diktator längst überdrüssig geworden; sie lässt sich von den neuesten Entwicklungen nicht aus der Ruhe bringen.

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