Tages-Anzeiger vom 22. 8. 00

Zwölf Kugeln für einen Dreizehnjährigen

In Chile sind die Überreste eines vor 27 Jahren verschwundenen Jugendlichen aufgetaucht. Er war das vermutlich jüngste Opfer des Pinochet-Regimes.

Autor: Von Ulrich Achermann, Santiago de Chile

Die chilenischen Brüder Ivan und Carlos Fariña haben sich vor 27 Jahren zum letzten Mal gesehen. Damals, im Oktober 1973, waren sie beide noch Kinder. Jetzt hat das Gerichtsmedizinische Institut von Santiago de Chile Ivan die Überreste seines Bruders ausgehändigt - auf zwei grossen Backblechen, links die Gebeine, rechts die Kleider von damals. In einem winzigen Kindersarg, kaum grösser als zwei Schuhschachteln, fand alles Platz.

Carlos Fariña war 13, als ihn zwölf Gewehrkugeln - vier in den Hinterkopf, acht in den Rücken - töteten. Da war General Pinochets blutiger Putsch in Chile gerade einen Monat alt und der Herrscher mit den dunklen Brillengläsern noch nicht absoluter Herr der Lage. Erst ab Dezember koordinierte seine Dina-Geheimpolizei die gezielte Ausrottung von mindestens 3197 Oppositionellen. Davor hatten rachsüchtige Militärs und hasserfüllte Zivilisten freie Hand: Eine Nachbarin im Santiagoer Elendsviertel "La Pincoya" zeigte Carlos Fariña beim Militär an, nachdem dieser beim Spielen mit einer gefundenen Pistole ihren Sohn verletzt hatte. Später verschleppten die Militärs den Ehemann der Anzeigeerstatterin: Wer sich Pinochets Todesmaschinerie zu sehr näherte, musste damit rechnen, dass er schliesslich selbst zwischen ihren Räder zermalmt wurde.

Die Existenz getilgt

Eine Gruppe von Soldaten und Polizisten zerrte Carlos Fariña eines Morgens aus dem Bett, und er verschwand für immer in der Kaserne des Gebirgsinfanterieregimentes Yungay. Die Mutter, Edith Josefina, starb 1978 - zerfressen von Schmerz und Krebs. Das Regime bestritt nicht nur Carlos' Ermordung, es leugnete zuletzt gar dessen Existenz: Der Name des Jugendlichen wurde kurzerhand aus dem Geburtenregister und dem Familienbuch der Fariñas gestrichen. Jemand, der legal nie existierte, könne auch nicht ermordet worden sein, höhnten die Machthaber und ihr Uno-Botschafter in New York.

Ende Juni dieses Jahres schwemmte der Regen Carlos Fariñas Gebeine in der Nähe des Flughafens von Santiago aus 60 Zentimeter Tiefe an die Oberfläche. Auf den Knochen lagen Pulli und Hose, die Carlos getragen hatte, als ihn die Militärs verschleppten. Ivan, der jüngere Bruder, und Humberto, der älteste, reichten inzwischen die Strafklage Nummer 163 gegen Pinochet ein. Ein Trost ist das für keinen. Ivan, heute ein 39-jähriger Mann mit eigener Familie, tat sich am schwersten, als er Carlos am Wochenende zu Grabe trug, mit einem Halt vor der Gruft der Mutter: Auf dem Totenbett hatte diese ihren Jüngsten angehalten, Nachforschungen über den verschwundenen Bruder anzustellen. Ivan selbst kam als Vollwaise bei einer Tante unter, deren Söhne als Folterknechte der Dina-Geheimpolizei im Solde Pinochets standen. "Das Thema Carlos war tabu", erzählt Ivan, "es anzuschneiden, lebensgefährlich."

Ungerührter Alt-Diktator

Pinochet, dem die obersten Richter unlängst die parlamentarische Immunität entzogen haben, reagierte auf die tiefe Betroffenheit, die der "Fall Fariña" in der Öffentlichkeit ausgelöst hat, als ginge ihn die Sache nichts an. Er plant gegenwärtig eine "Kommunikationsoffensive". Morgen Mittwoch hat er seinen ersten öffentlichen Auftritt in Chile nach der Rückkehr aus London. In der nach ihm benannten Presidente-Pinochet-Stiftung wird der knapp 85-Jährige ein Denkmal zur Erinnerung an die Opfer des "linken Terrorismus" einweihen. Den Bogen zum ermordeten Carlos Fariña schlägt Pinochets früherer Regierungssprecher und amtierender PR-Mann, Alfonso Marquez de la Plata, mit den Worten: "Sie können die Geschichte nicht nur mit der linken Hand schreiben. Die Medaille hat zwei Seiten, und die neuen Generationen müssen beide kennen."

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